Bemerkungen über den Codex Sinaiticus.
Von Dr. Edw. v. Muralt,
Bibliothekar der kaiserlichen Bibliothek zu Petersburg.
Bibliorum Codex Sinaiticus Petropolitanus auspiciis augustissimis imperatoris Alexandri II ex tenebris protraxit, in Europam transtulit, ad juvandas atque illustrandas sacras literas edidit Constantinus Tischendorf. Petropoli MDCCCLXII. (Typis exscripserunt Giesecke et Devrient Lipsiae.) 4 Bände Querfolio.
Die dem berühmten Bibelkritiker zum Zwecke der Herausgabe von den Mönchen des Katharinenklosters auf dem Berge Sinai anvertraute Handschrift wird nun nach Vollendung derselben im russischen Reichsarchive aufbewahrt, bis entschieden sein wird, ob der Codex in St. Petersburg verbleiben oder dem Kloster zurückgesendet werden soll. Dem Vernehmen nach hängt dieses davon ab, ob das Kloster von der russischen Regierung ein Dampfschiff erhalte, um die regelmässige Verbindung der Mönche mit ihrem gewöhnlich in Kairo weilenden Abte zu unterhalten.
Da es nun noch zweifelhaft ist, ob dieser Bibelschatz jedermann zugänglich bleiben wird, so haben wir uns darum bemüht, ihn jetzt noch einzusehen, um die Ausgabe, wenigstens das N. T., damit zu vergleichen. Wir haben demnach. nicht blos die auf den Blättern, die wir schon früher hatten einsehen können, gemachten Notizen zur Confrontirung mit
der Ausgabe benutzt, sondern eine Reihe anderer Stellen hinzugezogen, besonders diejenigen Abschnitte, die in der verwandten vaticanischen Handschrift fehlen, aus der sinaitischen genau nachgesehn.
Das Ergebniss dieser Untersuchung ist, dass uns in sämmtlichen verglichenen Stellen auch nicht Ein Versehen des Herausgebers vorgekommen ist, was nämlich die nicht corrigirten betrifft. Da aber ein halb Dutzend verschiedener Hände nacheinander bemüht waren, den ursprünglichen Text dem jetzt gewöhnlichen näher zu bringen, so entsteht mitunter die Frage, ob eine Verbesserung nicht von der ersten Hand herrühre, die sich selber corrigirt hat. So finden wir, dass das &, welches vor N in AXTEPAN Matth. 11, 2 eingeschoben ist, dieselbe Form und dieselbe Tinte zeige, wie der übrige Text, und nicht von einer viel späteren Hand sei, wie der Herausgeber angiebt, weil die erste Hand den Accusativ AXTEPAN öfter gebe, aber auch den regelmässigen AXTEPA giebt sie Ap. 11, 28. Matth. 17, 1 hatte dieselbe zuerst AIKAI0YNHN geschrieben, welches nach hebräischem Sprachgebrauche „Gutthat" bedeutet, wie denn Joseph 1, 19 nicht „gut“, sondern gerecht" genannt wird. Die folgenden Handschriften haben dafür EДEHMOXYNHN „Almosen" gesetzt; in der sinaitischen ist IKAIOZY ausradirt und darüber 40 EIN „Gabe" geschrieben, wie der Herausgeber behauptet, von dem ersten Corrector; uns hingegen und Andern, denen wir die Stelle gezeigt, ist es vorgekommen, als ob Schrift und Tinte dieselbe sei wie in den nicht corrigirten Stellen; 23, 6 steht Tv яoшτоxhiσíav „der Vorsitz“ von erster Hand, nicht aber τὰς πρωτοκλισίας, welches in den Prolegomenen als Lesart derselben angegeben ist. Ebenso ist uns Gal. 4, 14, Col. 1, 19, Heb. 8, 3. 6, 2 Tim. 2, 21. 4, 1, Tit. 1, 16. 2, 45, Philemon 7, 1 Petri 1, 24, Apoc. 1, 9. 3, 17. 11, 2. 12, 4. 13 die Correctur von erster Hand wahrscheinlicher als von einer folgenden, umgekehrt Luc. 16, 8, 1 Cor. 7, 13, 2 Thess. 2, 16, Ap. 3, 14 eine spätere Verbesserung und nicht eine ursprüngliche, wie der Herausgeber urtheilt,
Es ward daher von Vielen bedauert, dass nicht wenigstens die 135 Blätter des N. T. wie die 43 des A. T., die schon 1843 veröffentlicht worden, haben facsimilirt werden können.
Ausser der fehlerhaften alexandrinischen Schreibart des für die Diphthonge, worin übrigens die Handschrift keineswegs sich gleichbleibt, kommen solche auffallende Sinnverstösse und besonders eine solche Menge von sinnstörenden Lücken vor, dass man annehmen muss, der oder die Schreiber haben kein Griechisch verstanden. So steht Matth. 4, 21 „sie brachten Krankheiten Behaftete" statt „mit Krankheiten Behaftete". 5, 19 fehlt der Gegensatz „wer es aber thut und lehrt u. s. w." 9, 15 „es werden aber Tage kommen, wann der Bräutigam von ihnen genommen sein wird“. Luc. 24, 5 „und er ward in den Himmel erhoben", was doch in der Apostelgeschichte nicht vermisst wird. In der Apokalypse fehlt die Aufzählung der Briefe an die Sarder und der Stamm Symeons. Man kann demnach in solchen Weglassungen nicht häretische Absicht, sondern nur ein Versehn der Schreiber sehn. Dadurch werden die eigenthümlichen Lesarten vor dem Vorwurfe geschützt, willkürliche Verbesserungen zu sein, wie sie etwa Origenes sich erlaubte, der z. B. Jo. 1, 28 Bethabara schrieb statt Bethanien. So hat die sinaitische Handschrift allein Luc. 24, 13 statt 60 Stadien 160, wie es der Entfernung des Ortes Amwas (Emmaus) von Jerusalem entspricht. In den meisten Fällen aber stimmt dieser Codex mit dem vaticanischen gegen alle übrigen zusammen. So geben diese beiden allein den. Schluss des Marcus nicht, was schon Basilius und Hieronymus als Kennzeichen der ältesten Handschriften anmerken; ebenso fehlt nur in diesen beiden im Texte Eph. 1, 1 das „in Ephesus". Diese beiden Handschriften allein haben die von Eusebius um 331 eingeführten Kapitel nicht, müssen also vor dieser Zeit geschrieben sein, dagegen nach Origenes, der die Briefe des Jacobus und Judas zwar citirte aber nicht als kanonisch anerkannte. Auch können so kostbare Pergamenthandschriften, die mehrere Hunderte. von Thierhäuten und dazu die Arbeit so vieler Schön
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v. Muralt, Bemerkungen über den Codex Sinaiticus. schreiber erforderten, kaum vor dem Ende der Verfolgungen 251 oder 311 angefertigt worden sein; es ist auch bekannt, dass erst im Anfange des 4. Jahrhunderts die Papyrushandschriften auf das solidere Pergament übertragen wurden, wie z. B. mit der Bibliothek des Pamphilus in Caesarea geschehen ist.
Als Bestätigung der bisher ganz eigenthümlich und allein stehenden vaticanischen Lesarten ist daher die sinaitische Bibel von grossem Werthe; mit den zahlreichen von Origenes, dem grössten Bibelkritiker des Alterthums, angeführten Stellen der heil. Schrift stimmen diese beiden Codices meist überein und bieten uns den ursprünglichen Text des dritten Jahrhunderts. Höher hinauf kann man kaum gelangen, da die vorhergehenden Kirchenväter nur etwa 1400 Verse von 8931 des N. T., und auch diese nicht vollständig oder nur aus dem Gedächtnisse, citiren und ältere Handschriften wegen des gebrechlichen Papyrus, auf dem sie ursprünglich gefertigt waren, zu finden höchst unwahrscheinlich ist.
Jedenfalls verdient Herr Prof. Tischendorf für die Bekanntmachung dieser werthvollen Handschrift den Dank aller Bibelfreunde. Dem grössern Publicum können die Resultate derselben nur durch eine Uebersetzung anschaulich gemacht werden; diese bedarf aber wegen der erwähnten Schreibfehler und Lücken der Ergänzung und Verbesserung mittelst Origenes und der vaticanischen Handschrift. Eine solche Arbeit ist auch bereits von uns beendet und wird, so Gott will, nächstens veröffentlicht werden können.
IV.
Die armenischen Handschriften der kais. Wiener