George Ebers
Durch Gosen zum Sinai: aus dem Wanderbuche und der Bibliothek (1881)
https://archive.org/details/durchgosenzumsi03ebergoog/page/310/mode/1up
Die Bibliothek und der Codex Sinaiticus.
Unweit von dem Narthex der Kirche, auf seiner rechten Seite befinden sich die Gebäude, welche die Büchersammlung des Klosters enthalten. In der Schatzkammer werden einige kostbare Schaustücke, wie das Evangelienbuch des Theodosius, aufbewahrt, in der Kapelle der Panagia conservirt man die werthvollen Pergamenthandschriften in verschlossenen Koffern, in der »kleinen Bibliothek« beim Hause des Erzbischofs stehen die Papierhandschriften in Glasschränken und in der Kapelle des Prodromus befindet sich jetzt die früher im Sinaitenkloster von Kairo bewahrte Bibliothek, welche meist gedruckte Bücher, aber auch einige orientalische Handschriften enthält. Die eigentliche Bibliothek ist in einem zu ebener Erde liegenden Raume und im ersten Stockwerke über demselben aufgestellt. Das untere Bücherzimmer ist klein und enthält gedruckte Werke von geringem Werthe, während der obere Raum in Glasschränken und auf Regalen neben einer bunten Menge von unbedeutenden Schriften mancherlei bemerkenswerthe Bücher und Manuscripte enthält. Hier ist es, wo in alten Lettern die vielfach erwähnte Inschrift iarqet̃ov yvyñs, Heilanstalt der Seele, angebracht ist. Mein trefflicher College Prof. Dr. Gardthausen, welcher, um die Handschriften des St. Katharinenklosters zu studiren, einen guten Theil des vergangenen Winters am Sinai verlebte, und dem ich für manche nützliche Bemerkung zu diesem Abschnitte verpflichtet bin, theilt mir mit, dass diese Inschrift
*) Ueber die Verwechselung der Ghafire mit den Klosterdienern S. 305 Note.
jetzt nicht mehr vorhanden sei. Sie ist auch von keinem sinaitischen Mönche, sondern von dem Pharao der Bedrückung erfunden worden. Dieser mächtige Regent versah nämlich, wie der von Diodor citirte Hekatäos von Abdera, der zur Zeit des ersten Ptelemäers eine Geschichte Aegyptens verfasste, erzählt, den Eingang zu dem sogenannten Grabe des Osymandyas 304), dessen herrliche Trümmer unter dem Namen des Ramesseums bekannt sind, mit einer Aufschrift von gleichem Inhalt.
Ich betrat die nur selten in Anspruch genommene Heilanstalt der Seele mit der lebhaften Hoffnung, koptische Manuscripte zu entdecken; doch fand ich leider, obgleich ich zu verschiedenen malen in mehrstündiger Arbeit mit Hülfe des Macedoniers Band für Band untersuchte, kein koptisches Blatt, so unwahrscheinlich es auch genannt werden muss, dass es gerade an dieser Stelle an Handschriften in der Sprache des heiligen Antonius und der christlichen Aegypter gefehlt habe. Wahrscheinlich sind die früher hier vorhandenen Coptica in das Schwesterkloster zu Kairo gewandert; oder sollten die Schriften der monophysitischen Kopten in der Zeit der herbsten Anfeindungen zwischen den letzteren und den Katholiken oder Melchiten (»die Königlichen«, weil sie zur Krone hielten als ketzerisch aus der Büchersammlung des katholischen Klosters ausgeschlossen worden sein? Gardthausen sind bei seiner gründlichen Durchforschung der Bibliothek einige Blätter aus koptischen Stücken aufgestossen.
Unter den Büchern, welche durch meine Hand gingen, befanden sich zahlreiche Manuscripte (nach Tischendorf an fünf hundert 305)), welche ungesondert von den gedruckten Büchern, immerhin so aufgestellt waren, dass man die Spuren einer ordnenden aber ungeschickten Hand, wol der des
von Tischendorf mit Anerkennung erwähnten gelehrten Athosmönchs Cyrill, der früher als »>Professor und Bibliothekar«< im Kloster weilte, wahrzunehmen vermochte. Der Prior, welcher meiner Untersuchung der Bibliothek als stummer, vollkommen ungelehrter Zeuge beiwohnte, suchte lange vergeblich nach dem von Cyrill verfassten Verzeichnisse der Bücher, von dessen Vorhandensein ich unterrichtet war, fand es in der zwölften Stunde und gestattete dem Macedonier, eine Abschrift desselben für mich herzustellen, welche mir nachgesandt werden sollte; doch warte ich noch heute vergebens auf diesen Schatz, dessen Ausbleiben ich keineswegs dem dienstfertigen Freunde zur Last lege. Uebrigens ist Cyrills Catalog nichts weniger als vollständig und bezieht sich fast ausschliesslich auf die vorhandenen griechischen Schriften. Gardthausen sah ihn nicht, wol aber einen anderen, welcher von einem russischen Geistlichen herrührt.